"Farewell to the West now, our minds are open to the East, to all the new faces, new minds and things to see.
We are alone here, and our hearts at times they weep. But you will see us through the colours, as the sun sinks in the sea."
- Xavier Rudd

Freitag, 13. Januar 2012

Ein bisschen Alltag

 

Ein Tag in der Schule

Laute Tempelmusik – irgendetwas zwischen Gesang und Gebet - dröhnt von der Straße in unsere Wohnung. Es ist sechs Uhr morgens und wir freuen uns noch kurz weiterschlafen zu können, bis dann um sieben Uhr tatsächlich unser Wecker klingelt. Erst dann stehen wir auf und quälen uns ins Bad, wo eine kalte Dusche uns endgültig aufweckt.

Nach einem ausgewogenen Frühstück aus Choco-Cornflakes, Haferflocken und Milch verlassen wir um viertel vor neun unsere Wohnung und machen uns entlang der Hauptstraße Parvathipurams auf den Weg zur Bushaltestelle, von der aus wir unsere einstündige Fahrt in die Dorfschulen starten. Die Straße ist schon prall gefüllt mit Fahrrädern, Rikschas,  Motorrädern und Rollern, die sich alle laut hupend durch die Straßen schlängeln. IMG_8160Unser Weg führt uns vorbei an Frühstücksständen, Restaurants und Obstverkäufern, unserem Eierverkäufer, in dessen Laden wir mittlerweile Stammkunden sind, und unserer Gemüsefrau, die uns, wenn sie uns sieht, freundlich zuwinkt. Gruppen von Schulkindern in ihren grün oder blau-weißen Uniformen schauen uns neugierig hinterher und fangen an zu strahlen, wenn wir ihnen ein “Good Morning” zurufen oder winken. Andere gesellen sich zu uns und fragen in einer Mischung aus Englisch und Telugu nach unseren Namen und danach, was wir denn machen.

IMG_7395An der Haltestelle angekommen setzen wir uns auf die Plattform mit Wellblechüberdachung, an der bereits zahlreiche andere Leute warten – Frauen mit kleinen Kindern oder großen Körben voll von Gemüse auf dem Kopf, Schulkinder, mit ihren Uniformen und sauber geflochtenen Zöpfen oder Männer, die sich angeregt unterhalten.

Endlich im Bus beschäftigen wir uns für die nächste Stunde damit aus dem Fenster zu schauen und zu beobachten, wie wir langsam in eine andere Welt fahren – hinaus aus Parvathipuram, hinein in die “tribal area”. Die Straßen werden immer enger und gewundener, es begegnen uns immer weniger Fahrzeuge und bald sind es fast nur noch Rikschas, Viehherden und Ochsenwagen mit denen wir die Straße teilen. Wir fahren vorbei an riesigen Reisfeldern, auf denen bereits gearbeitet wird, Seen, in denen sich die Menschen waschen und den vielen Dörfern mit ihren Strohhütten und einem Gewusel aus Menschen und Tieren.

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Auf halber Strecke steigen einige Kinder ein. Sie stecken jedem von uns eine Blume ins Haar und lachen über unsere Versuche all ihre Namen zu lernen oder uns mit ihnen auf Telugu zu unterhalten, bevor sie an ihrer Schule aussteigen.   

Wir fahren noch ein Stück weiter, jetzt mit einem Grinsen im Gesicht. Das Gefühl auch durch kleine Gesten Zugang zu den Menschen zu finden, macht uns glücklich und mit diesen positiven Gefühlen kommen wir schließlich jeweils in unseren Dorfschulen an.

Wir laufen auf die kleinen Gebäude zu, aus denen die Schulen bestehen. Die ersten Kinder entdecken uns und schreien uns ein fröhliches “Good Morning, Madame” zu. Sie rennen uns entgegen, nehmen uns an der Hand und führen uns in den Klassenraum, vor dem wir noch schnell unsere Schuhe von uns kicken. Dort angekommen dauert es noch eine Weile, bis Ruhe einkehrt und sie einigermaßen geordnet in Reihen auf dem Boden vor dem Lehrerpult sitzen. Schon rufen die ersten “Good Morning Song, Madame, Good Morning Song!” und wir beginnen den Tag mit dem ersten Englischen Lied, das wir ihnen beigebracht haben. DSC00756

Im Unterricht versuchen wir den Kindern, die eigentlich gar kein Englisch sprechen und verstehen können und unsere Buchstaben eher abmalen als schreiben, dann verschiedene Wortfelder mit Hilfe von Bildern beizubringen und damit dann kleine Sätze zu bilden. Anschließend fragen wir das Gelernte dann durch Spiele ab. Vor allem das Quiz, bei dem die Kinder zwei IMG_7396Gruppen bilden müssen und dann immer zwei abgefragt werden, ist sehr beliebt. Nicht zuletzt wegen der Stühle, auf denen sie sitzen dürfen, wenn sie dran sind, sitzen sie sonst doch immer auf dem Boden. Sie lernen schnell und es ist ein gutes Gefühl, wenn sie in den Pausen zu uns kommen und fragen “How old are you Madame? What is your name?”.   

Nach getaner Arbeit gibt es um halb eins Mittagessen für alle. Ab viertel nach zwölf gibt es daher kein Halten mehr: alle springen umher und rennen zu sich nach Hause, um Teller zu holen. Anschließend setzen sie sich in einem Kreis vor das Schulgebäude, singen kurz den “Shanti-Song” (eine Art Gebet, das in Indien gesungen wird) und fangen an zu spachteln.

Sobald sie fertig sind, stehen sie auf, waschen ihre Hände und Teller ab und fangen an zu spielen, bevor es um halb zwei weitergeht.

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Nachmittags unterrichten wir dann nicht weiter, sondern geben den Kindern Malaufgaben, basteln oder spielen. So haben wir schon Tempel, Familien und Tiere gemalt, Origami gefaltet oder kleine Bälle aus Sand und Luftballons mit ihnen gebastelt. Die Freude am Ende des Tages ist immer groß, wenn sie bemerken, dass sie das Ergebnis unserer Kreativstunden auch für sich behalten dürfen und nicht zurückgeben müssen.

Gegen halb drei kommt dann unser Bus. Die Kinder springen auf, reichen uns unsere Taschen, nehmen uns an der Hand und rennen mit uns zur Haltestelle, wo sie uns winkend verabschieden.

 

Case Studies

An einem anderen Tag fahren wir in ein weiteres Tribal Dorf. Auf dem Rücksitz der Roller unserer Mentorinnen machen wir uns auf den Weg nach Depi Valasa. Das Dorf liegt abgelegen, ist nur über einen kleinen Feldweg zu erreichen. Schon bald stehen wir mittendrin in dem kleinen Dorf, das aus wenigen Hütten, einer Schule und einem Brunnen besteht. Wir betrachten die Menschen auf den Straßen dabei, wie sie große Weidenkörbe mit Kuhdung abdichten, am Brunnen ihre Töpfe waschen oder einfach nur vor ihren Häusern sitzen und sich unterhalten. Im Hintergrund erstrecken sich die gigantischen Berge und Felder und man bekommt das Gefühl weit weg von allem bekannten und gewohnten zu sein.

JKS ist in diesem Dorf tätig und unterstützt die Menschen durch ein sogenanntes “Income Generation Programm” (IGP). Mehrere Frauenselbsthilfegruppe wurden dafür aufgebaut, denen dann jeweils Geld gegeben wird, um zum Beispiel Vieh zu kaufen, das von den Familien gezüchtet und weiterverkauft wird. So wird nicht nur eine Einnahmequelle geschaffen, sondern gleichzeitig auch versucht Kinderarbeit in solchen Dörfern zu verringern, indem die Frauen außerdem über Kinderrechte oder die Wichtigkeit von Bildung aufgeklärt werden. Häufig werden die Kinder hier nämlich aufgrund des geringen Einkommens ihrer Eltern nach der Grundschule als Tagelöhner auf die Felder oder zu Bauarbeiten geschickt.

Mit den Frauen des Dorfes setzen wir uns vor eines der Häuser, kommunizieren mit ihnen durch Lachen oder einigen Worten Telugu, über die sie sich sehr freuen.

Wir unterhalten uns mit einer jungen Frau, deren Geschichte wir aufschreiben sollen. Sie sitzt mit ihrem bunten Sari vor uns auf dem Boden und schaut uns gespannt an.  Neben ihr liegt ein langer Stock, den sie als Gehhilfe benötigt. Ihr rechtes Bein ist seit einer Polioinfektion in ihrer Kindheit gelähmt und so kann sie sich nur sehr langsam und holprig fortbewegen.

IMG_7792Sie erzählt uns davon, dass sie aufgrund ihrer Lähmung nur wenig arbeiten kann, wenig verdient und auch das Einkommen ihres Mannes nicht ausgereicht hat, um die täglich anfallenden Ausgaben zu decken. Deshalb schickten sie auch ihren Sohn als Tagelöhner auf die Felder. Von JKS wurde die Familie im Rahmen des IGP unterstützt. So hat die Familie jetzt eine weitere Einnahmequelle und komme heute gut über die Runden, auch ohne die Arbeit ihres Kindes, das wieder normal zur Schule geht.

Für uns ist es schwer zu verstehen, was für ein Leben die Menschen in solchen Dörfern führen, weshalb es auch schwer fällt, es zu beschreiben. Das, was sie uns bei solchen Unterhaltungen erzählen, wirkt irreal und weit weg für uns. Wir schauen sie an, wie sie da auf dem Boden hocken, ihre bunten Saris um die dürren Körper gewickelt, die lachenden Gesichter von tiefen Falten zerfurcht, und können uns das Leben dieser herzlichen und wundervollen Menschen doch nicht vorstellen.

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Wir sind gerne bei ihnen und genießen es auf dem Boden vor einem der Häuser zu sitzen, zu lächeln, mit dem Kopf zu wackeln und ihre lachenden Gesichter zu sehen. Mit der Zeit setzen sie sich neben uns, nehmen unsere Hand, betrachten interessiert unsere Armreife oder bedeuten uns mit ihnen zu gehen, damit sie uns ihr Haus zeigen können. Arm in Arm gehen wir also durch das Dorf in ihre Häuser, die häufig dunkel sind, weil sie keine Fenster haben. Meistens bestehen sie aus einem Raum, in dem die Familie auf dem Boden oder auf kleinen Pritschen schläft, und einer kleinen Küche, einem Raum mit Töpfen und einer Feuerstelle. Sie haben weder fließendes Wasser noch ein eigenes Bad, zum Einkaufen müssen sie weite Wege zurücklegen, ihre Kleidung waschen sie am Brunnen oder in einem nahegelegenen Fluss – das Leben findet hauptsächlich draußen statt.

Viel zu schnell wird es Abend und nach einem Tee verabschieden wir uns, setzen uns hinter unsere Mentorinnen auf den Roller und fahren glücklich über diesen schönen Tag und die Zuneigung, die uns entgegengebracht wurde, aus der Welt der Tribals hinaus und hinein nach Parvathipuram, wo sich unsere Wohnung befindet. Unsere Wohnung mit ihrem Bad, dem gefüllten Kühlschrank, den Büchern, Stiften, Zeitungen und dem Computer – unsere Wirklichkeit.

1 Kommentar:

  1. Suuper, so ein fundierter, schön gestalteter Eintrag, der es uns ermöglicht, euren Alltag zu verstehen. Wie viel Empathie ihr inzwischen für die Menschen dort entwickelt habt!

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